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Renate Schernus
Hausärztin im Kiez
Portrait der Anna B.
ISBN 3-88414-319-0, Psychiatrie Verlag Bonn 2002,
136 Seiten
Verlagsinformation
Können psychiatrische Mitarbeiter von einer Hausärztin lernen? Neben all
den Patienten, die in jeder Hausarztpraxis behandelt werden wie
Zuckerkranke, Menschen mit Gefäßerkrankungen, Krebskranke, Migränepatienten
und vielen anderen kommen zu Anna Bogailoff außerdem selbstverständlich und
unentdeckt viele der Menschen, um deren Versorgung in der Psychiatrie sehr
viel Krach geschlagen wird: diagnosescheue Personen aus Randgruppen aller
Art.
Renate Schernus, Psychologin und jahrelang Leiterin einer psychiatrischen
Klinik, hört mit Staunen, wie ihre Freundin Anna als Hausärztin ganz
unspektaktulär all die Menschen versorgt, die andernorts Fälle für
Spezialabteilungen und -kliniken wären. Mit einem genauen Blick auf die
Person und ihre Lebensumstände findet sie Tag für Tag kreative, originelle
und hilfreiche individuelle Lösungen, die auch mal in einem Verzicht auf
Behandlung liegen können.
Annas hausärztliche Praxis ist auf ganz natürliche Weise das, was man in
der psychiatrischen Szene als ›gemeindenah‹ und ›niedrigschwellig‹ zu
bezeichnen pflegt. Staunenswert sind die Chancen, die darin liegen, und zwar
besonders für eigenartige und eigenwillige Menschen, die die Psychiatrie
scheuen oder umgekehrt, vor denen sich die Psychiatrie immer noch zu sehr
scheut. Sicher ist Annas persönlicher Einsatz sehr hoch und ihre
Arbeitsweise höchst individuell, aber – die Frage sei gestattet –, gehen
nicht ansatzweise auch andere Hausarztpraxen auf bescheidene und
unauffällige Weise mit einer Klientel um, das den offiziellen Vertretern der
Psychiatrie ausweicht? Wenn das so ist, könnte die Psychiatrie in der Tat
viel von den Hausärzten lernen. |


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Leseprobe aus dem Vorwort:
Ich habe nicht bereut, mich auf den Bericht über
Anna B. eingelassen zu haben, denn ich hörte und sah Erstaunliches, wurde
immer neugieriger und immer überzeugter, dass es gerade im Zeitalter
ausgeklügelter Qualitätssicherungsinstrumente wichtig sein könnte, den Blick
einmal weg von den Instrumenten hin auf eine Person zu richten, die kreativ
und originell Tag für Tag durch die Art ihres Umgangs mit Menschen ›Qualität
erzeugt‹.
(...)
Während der Vorarbeiten zum
Buch habe ich mich bisweilen hinreißen lassen, die eine oder andere der
Behandlungsmethoden Anna Bogailoffs Kollegen gegenüber zu erwähnen. Die
Reaktionen waren höchst unterschiedlich. Ein Psychologe fragte besorgt, ob
diese Ärztin vielleicht auch irgendwie..., denn ganz normal sei das doch
wohl nicht. Ein junger Arzt hörte begeistert zu: ›Tolle Frau, so würde ich
auch gern arbeiten.‹ Eine Sozialarbeiterin rasterte Anna Bogailoff sofort in
die Rubrik ›ausgeprägtes Helfersyndrom‹ weg. Eine Krankenschwester, erfahren
im Umgang mit längerfristig psychisch kranken Menschen, bemerkte: ›Endlich
mal eine Ärztin, die sich ihre Normalität bewahrt hat.‹
Leseproben aus dem Text:
„Anders als
viele Menschen, die ich kenne, gibt Anna, wenn sie über ihre Arbeit erzählt,
nicht an. Sie muss meines Erachtens nicht angeben, weil sie alles, was sie
tut, in dem Moment, in dem sie es tut, um der Sache selbst willen und mit
Lust tut. Alles, was ihr begegnet, genießt sie mehr oder minder, wird davon
berührt, verletzt und traurig oder auch hilflos. Jedenfalls setzt sie sich
allen Phänomenen und besonders dem Phänomen Mensch mit erstaunlich wenig
Vorurteilen und wenig distanzierendem Selbstschutz aus. Ob Zuhälter,
Professor, Fußballkid oder Exknasti – weil Anna keine Angst vor Menschen
hat, bleibt ihre Wahrnehmung klar und genau. Und wer selber keine Angst hat,
macht auch keine Angst. Ich glaube, all das ist es, was sie so beliebt
macht.“
(...)
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„24:30 Uhr – das Telefon
klingelt schrill. Anna rappelt sich mühsam hoch. Pjotr knurrt schlaftrunken
und versucht, nicht ganz aufzuwachen.
»Ja, Doktor Bogailoff. Wer ist
da bitte?«
»Janzarek, bitte kommen Sie
sofort, Frau Doktor. Bei mir ist – also wirklich – ein Pferd in der Wohnung.
Ich komm damit nicht klar.«
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Er steht ihr jetzt vor Augen,
der Janzarek, ein notorischer Trinker. Er hat nur noch ein Bein und
verbringt die meiste Zeit im Bett oder auf dem Fußboden. Sie denkt, Delir –
was sonst?
Er wird drängender: »Bitte
Frau Doktor, kommen Sie schnell. Das Biest macht mich ganz irre. Das
schnaubt und scheißt. Ich hab keinen Platz für‘n Pferd. Wie es rein gekommen
ist? Woher soll ich das wissen? So eine Gemeinheit!«
Anna seufzt: »Ich komme«, und
legt auf.
Janzarek öffnet auf dem Boden
sitzend die Wohnungstür. Hat sich zur Tür gerobbt. Anna reibt sich die
Augen. Er hält ein großes Pony am Halfter. Delir? Wessen? Sie findet
allmählich heraus, dass alte Saufkumpanen das Pony drei Stockwerke hoch
bugsierten, nur um es dem Janzarek in die Wohnung zu schieben.“

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